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Abschnitt 1 - Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG)


Abschnitt 1 Musterverfahrensantrag; Vorlageverfahren

§ 1 Anwendungsbereich; Verhältnis zum Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz



(1) Dieses Gesetz ist anwendbar in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, in denen einer der folgenden Ansprüche geltend gemacht wird:

1.
ein Schadensersatzanspruch wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformation,

2.
ein Schadensersatzanspruch wegen Verwendung einer falschen oder irreführenden öffentlichen Kapitalmarktinformation oder wegen Unterlassung der gebotenen Aufklärung darüber, dass eine öffentliche Kapitalmarktinformation falsch oder irreführend ist,

3.
ein Erfüllungsanspruch aus einem Vertrag, der auf einem Angebot nach dem Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz, einschließlich eines Anspruchs nach § 39 Absatz 3 Satz 3 und 4 des Börsengesetzes, beruht, oder

4.
ein Schadensersatzanspruch nach Artikel 75 Absatz 8 der Verordnung (EU) 2023/1114 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. Mai 2023 über Märkte für Kryptowerte und zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 1095/2010 sowie der Richtlinien 2013/36/EU und (EU) 2019/1937 (ABl. L 150 vom 9.6.2023, S. 40; L, 2024/90275, 2.5.2024), die durch die Verordnung (EU) 2023/2869 (ABl. L, 2023/2869, 20.12.2023) geändert worden ist.

(2) 1Öffentliche Kapitalmarktinformationen sind Informationen über Tatsachen, Umstände, Kennzahlen und sonstige Unternehmensdaten, die für eine Vielzahl von Kapitalanlegern bestimmt sind und einen Emittenten von Wertpapieren oder einen Anbieter von sonstigen Vermögensanlagen betreffen. 2Dies sind insbesondere Angaben

1.
in Prospekten nach der Verordnung (EU) 2017/1129 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt zu veröffentlichen ist und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/71/EG (ABl. L 168 vom 30.6.2017, S. 12), die zuletzt durch die Verordnung (EU) 2023/2869 (ABl. L, 2023/2869, 20.12.2023) geändert worden ist,

2.
in Wertpapier-Informationsblättern nach dem Wertpapierprospektgesetz und Informationsblättern nach dem Wertpapierhandelsgesetz,

3.
in Verkaufsprospekten, Vermögensanlagen-Informationsblättern und wesentlichen Anlegerinformationen nach dem Verkaufsprospektgesetz, dem Vermögensanlagengesetz, dem Investmentgesetz in der bis einschließlich 21. Juli 2013 geltenden Fassung sowie dem Kapitalanlagegesetzbuch,

4.
in Anlagebasisinformationsblättern nach der Verordnung (EU) 2020/1503 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Oktober 2020 über Europäische Schwarmfinanzierungsdienstleister für Unternehmen und zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/1129 und der Richtlinie (EU) 2019/1937 (ABl. L 347 vom 20.10.2020, S. 1), die durch die Delegierte Verordnung (EU) 2022/1988 (ABl. L 273 vom 21.10.2022, S. 3) geändert worden ist,

5.
in Kryptowerte-Whitepapern nach der Verordnung (EU) 2023/1114,

6.
in Mitteilungen über Insiderinformationen nach Artikel 17 der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission (ABl. L 173 vom 12.6.2014, S. 1; L 287 vom 21.10.2016, S. 320; L 348 vom 21.12.2016, S. 83), die zuletzt durch die Verordnung (EU) 2023/2869 (ABl. L, 2023/2869, 20.12.2023) geändert worden ist, sowie nach § 26 des Wertpapierhandelsgesetzes,

7.
in Darstellungen, Übersichten, Vorträgen und Auskünften in der Hauptversammlung über die Verhältnisse der Gesellschaft einschließlich ihrer Beziehungen zu verbundenen Unternehmen im Sinne des § 400 Absatz 1 Nummer 1 des Aktiengesetzes,

8.
in Jahresabschlüssen, Lageberichten, Konzernabschlüssen, Konzernlageberichten sowie Halbjahresfinanzberichten des Emittenten,

9.
in auf den Emittenten oder Anbieter von sonstigen Vermögensanlagen bezogenen Ratings nach der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über Ratingagenturen (ABl. L 302 vom 17.11.2009, S. 1; L 350 vom 29.12.2009, S. 59; L 145 vom 31.5.2011, S. 57), die zuletzt durch die Verordnung (EU) 2023/2869 (ABl. L, 2023/2869, 20.12.2023) geändert worden ist, sowie in Bestätigungsvermerken von Abschlussprüfern zu offenzulegenden Jahresabschlüssen und Konzernabschlüssen des Emittenten und

10.
in Angebotsunterlagen im Sinne des § 11 Absatz 1 Satz 1 des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes.

(3) 1Dieses Gesetz ist auf Verbandsklagen nach dem Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz nicht anzuwenden; § 18 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt. 2Der Zulässigkeit eines Musterverfahrens nach diesem Gesetz steht nicht entgegen, dass wegen desselben Lebenssachverhalts eine Verbandsklage rechtshängig ist.


§ 2 Musterverfahrensantrag



(1) Durch Musterverfahrensantrag können der Kläger und der Beklagte im ersten Rechtszug die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen (Feststellungsziele) beantragen.

(2) 1Der Musterverfahrensantrag ist bei dem Prozessgericht unter Angabe der Feststellungsziele und der betroffenen öffentlichen Kapitalmarktinformationen zu stellen. 2Im Fall des § 1 Absatz 1 Nummer 4 sind anstelle der betroffenen öffentlichen Kapitalmarktinformationen die Vorfälle nach Artikel 75 Absatz 8 der Verordnung (EU) 2023/1114 anzugeben.

(3) 1In dem Antrag sind die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel anzugeben. 2Der Antragsteller muss darlegen, dass der Entscheidung über die Feststellungsziele im Musterverfahren Bedeutung über den einzelnen Rechtsstreit hinaus für andere gleichgelagerte Rechtsstreitigkeiten zukommen kann.

(4) Dem Antragsgegner ist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.


§ 3 Entscheidung über den Musterverfahrensantrag



(1) Das Prozessgericht entscheidet über die Zulässigkeit des Musterverfahrensantrags durch unanfechtbaren Beschluss.

(2) Das Prozessgericht verwirft den Musterverfahrensantrag als unzulässig, soweit

1.
die Entscheidung des zugrunde liegenden Rechtsstreits voraussichtlich nicht von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt,

2.
die angegebenen Beweismittel zum Beweis der geltend gemachten Feststellungsziele ungeeignet sind,

3.
nicht dargelegt ist, dass eine Bedeutung für andere gleichgelagerte Rechtsstreitigkeiten gegeben ist, oder

4.
der Musterverfahrensantrag zum Zweck der Prozessverschleppung gestellt ist.


§ 4 Bekanntmachung des Musterverfahrensantrags



(1) 1Einen zulässigen Musterverfahrensantrag macht das Prozessgericht im Musterverfahrensregister (§ 5) öffentlich bekannt. 2Die Bekanntmachung soll binnen drei Monaten ab Eingang des Antrags erfolgen.

(2) Die Bekanntmachung ist mit dem Datum ihrer Veröffentlichung zu versehen und enthält die folgenden Angaben:

1.
die vollständige Bezeichnung der Beklagten und ihrer gesetzlichen Vertreter,

2.
die Bezeichnung des von dem Musterverfahrensantrag betroffenen Emittenten von Wertpapieren, Anbieters von sonstigen Vermögensanlagen oder Anbieters von Kryptowerte-Dienstleistungen,

3.
die Bezeichnung des Prozessgerichts,

4.
das Aktenzeichen des Prozessgerichts,

5.
die Feststellungsziele des Musterverfahrensantrags einschließlich der betroffenen öffentlichen Kapitalmarktinformationen oder der Vorfälle nach Artikel 75 Absatz 8 der Verordnung (EU) 2023/1114,

6.
eine knappe Darstellung des vorgetragenen Lebenssachverhalts,

7.
die Höhe des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs, soweit dieser von den Feststellungszielen des Musterverfahrens betroffen ist, und

8.
den Zeitpunkt des Eingangs des Musterverfahrensantrags beim Prozessgericht.


§ 5 Musterverfahrensregister; Verordnungsermächtigung



(1) Das Musterverfahrensregister wird im Bundesanzeiger unter der Rubrik „Register nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz" geführt.

(2) Die Einsicht in das Musterverfahrensregister steht jedem unentgeltlich zu.

(3) 1Das Gericht, das die Bekanntmachung veranlasst, trägt die datenschutzrechtliche Verantwortung für die von ihm im Musterverfahrensregister bekannt gemachten Daten, insbesondere für die Rechtmäßigkeit ihrer Erhebung, die Zulässigkeit ihrer Veröffentlichung und die Richtigkeit der Darstellung. 2Der Betreiber des Musterverfahrensregisters verarbeitet die Daten im Auftrag und nach Weisung des Gerichts, das die jeweilige Bekanntmachung veranlasst.

(4) Die im Musterverfahrensregister gespeicherten Daten sind sechs Monate nach rechtskräftigem Abschluss des Musterverfahrens oder im Fall des § 7 Absatz 5 Satz 1 sechs Monate nach Zurückweisung des Musterverfahrensantrags zu löschen.

(5) 1Das Bundesministerium der Justiz wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates nähere Bestimmungen über Inhalt und Aufbau des Musterverfahrensregisters, insbesondere über Eintragungen, Änderungen, Löschungen, Einsichtsrechte, Datensicherheit und Datenschutz, zu treffen. 2Dabei sind Vorschriften vorzusehen, die sicherstellen, dass die Bekanntmachungen

1.
unversehrt, vollständig und aktuell bleiben sowie

2.
jederzeit ihrem Ursprung zugeordnet werden können.


§ 6 Unterbrechung des Verfahrens



Mit der Bekanntmachung des Musterverfahrensantrags wird das jeweilige Ausgangsverfahren unterbrochen, soweit die Entscheidung des Rechtsstreits voraussichtlich von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt.


§ 7 Vorlage an das Oberlandesgericht; Verordnungsermächtigung



(1) 1Durch Vorlagebeschluss ist eine Entscheidung des im Rechtszug übergeordneten Oberlandesgerichts über die Feststellungsziele von Musterverfahrensanträgen herbeizuführen, die den gleichen zugrunde liegenden Lebenssachverhalt betreffen (gleichgerichtete Musterverfahrensanträge), wenn innerhalb von sechs Monaten nach der ersten Bekanntmachung eines Musterverfahrensantrags mindestens neun weitere solcher Anträge bekannt gemacht wurden. 2Der Vorlagebeschluss ergeht unverzüglich nach Ablauf der in Satz 1 genannten Frist. 3Der Vorlagebeschluss ist unanfechtbar.

(2) Zuständig für den Vorlagebeschluss ist das Prozessgericht, bei dem der erste bekannt gemachte Musterverfahrensantrag gestellt wurde.

(3) Der Vorlagebeschluss enthält:

1.
die Feststellungsziele,

2.
eine knappe Darstellung des den Musterverfahrensanträgen zugrunde liegenden gleichen Lebenssachverhalts,

3.
die angegebenen Beweismittel und

4.
eine Zusammenstellung aller bekannt gemachten gleichgerichteten Musterverfahrensanträge mit den Angaben nach § 4 Absatz 2.

(4) 1Das Prozessgericht macht den Vorlagebeschluss unverzüglich im Musterverfahrensregister öffentlich bekannt. 2Zugleich teilt es dem Oberlandesgericht die vollständige Bezeichnung der Kläger derjenigen Ausgangsverfahren mit, die Gegenstand des Vorlagebeschlusses sind.

(5) 1Sind seit Bekanntmachung des jeweiligen Musterverfahrensantrags innerhalb von sechs Monaten weniger als neun weitere gleichgerichtete Anträge bekannt gemacht worden, so weist das Prozessgericht den Antrag durch Beschluss zurück und setzt das jeweilige Ausgangsverfahren fort. 2Der Beschluss ist unanfechtbar.

(6) 1Sind in einem Land mehrere Oberlandesgerichte errichtet, so kann die Zuständigkeit für Musterverfahren nach diesem Gesetz von der Landesregierung durch Rechtsverordnung einem der Oberlandesgerichte oder dem Obersten Landesgericht zugewiesen werden. 2Die Landesregierungen können die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die Landesjustizverwaltungen übertragen.

(7) Durch Staatsverträge zwischen Ländern kann die Zuständigkeit eines Oberlandesgerichts für Musterverfahren nach diesem Gesetz für einzelne Bezirke oder für das gesamte Gebiet mehrerer Länder begründet werden.


§ 8 Sperrwirkung des Vorlagebeschlusses



Ab dem Erlass des Vorlagebeschlusses sind weitere gleichgerichtete Musterverfahrensanträge unzulässig; § 3 ist anzuwenden.